„Musa–Chroniken I“

Wieso ich „Musa–Chroniken I“ geschrieben habe. Ein rein assoziativer, roher Blick ins verschattete Autoren–Hirn

Vor vielen Jahren zogen Patricia und ich in die erste wirklich gemeinsame Wohnung. Unsere Traumwohnung, in der wir bis heute leben.

Ich ließ am Kölner Salierring ein wunderschönes Appartement im 5. Stock zurück. Hell, warm, total zentral, in der Nähe der beeindruckenden alten Stadtmauer. Aber zu klein für uns Zwei, zumal wir zusammen von Zuhause aus arbeiteten, zudem mit wenig Stellmöglichkeiten für Schränke etc. 

Also habe ich viele Unterlagen, Fotos, Dokumente, Bücher, Platten, DVDs im trocken wirkenden Keller eingelagert. Außerdem Surf–, Ski– und Sportklamotten, dies das Ananas.

Im Rahmen unseres Umzugs ging es abschließend um das Räumen des Salierring-Kellers. Wo ich – in meiner Lieblings–Trainingstasche – einen frischen Wurf Ratten fand. Inklusive fürsorglicher, protektiver Eltern. 

Ich habe gedacht, ich bin in einem Horrorfilm. In meinem ganz persönlichen „Ben und Willow“. Oder in dieser gruseligen Folterszene mit der Ratte. In welchem Film war das nochmal… 1984? Egal, Ratten hatten in meinem inneren Angst–Gebäude schon immer einen eigenen Flügel.

Als Kinder wohnten wir in einer ebenso prekären wie lebenslustigen Siedlung. Frisch gebauter feuchter Architektentraum. Ein Areal Fußballwiese. Darauf ein Wurf Fünfstöcker–Blöcke, dazu zwei Hochhäuser mit Balkonen. Für den Traumblick über ganz… öh Ohligs. Einen ebenfalls in weiten Bereichen prekären Solinger Stadtteil in den 1970ern. 

Der Blick in die umgekehrte Richtung ging nach Aufderhöhe. Der Sehnsuchtsort. Von uns aus gesehen erst Reihenhäuser, dann freistehende Einfamilienhäuser, dann, je weiter der Blick wegsegelte: echte Villen. Mit privaten Swimmingpools. 

Sowas kannte ich sonst nur aus amerikanischen Serien. Oder von Timm Thaler. Der TV–Serie natürlich, das Buch kannte ich nicht, weil es IMMER ausgeliehen war im verdammten Bücherbus, der alle zwei Wochen kam, um dich dann immer nur mit höchstens drei Büchern wieder auszuspucken. 

Diese brutal einschränkenden Buch–Entscheidungen haben mich geprägt. Kästner oder Krüss? Blyton oder Lindgren? Asterix oder Lucky Luke? Alle zwei Wochen. 

Das Ritual zwischen mir und dem Bücherbusmann war jede Woche dasselbe. Die Türen öffneten sich mit einem hydraulischen Zischen, unmittelbar gefolgt von meiner ersten Frage, nein Bitte, nein, Flehen. Es war jedes Mal eine überirdische, eine nach Magie und Wunder schreiende Hoffnung: Ist „Timm Thaler“ von James Krüss da?

Und jedesmal – literally jedesmal – sagte der liebenswert–stoische Bücherbusmann: „Tut mir leid. Ist noch ausgeliehen. Stehst du auf der Liste?“ 

„Ja, ich stehe auf der Liste.“ 

„Dann bist du sicher bald dran.“ Dann empfahl er mir mit einem Lächeln Alternativen, für die ich ihn liebte, denn er konnte nie richtiger liegen. Allerdings waren es eben immer nur „Alternativen“ zu „Timm Thaler“.

Nur einmal schien das Schicksal eine neue Wendung zu nehmen, ausgerechnet als der Bücherbusmann in Urlaub war. Und irgendein Toupetträger mit Kaiser Wilhelm–Schnäuzer ihn vertrat. „Timm Thaler?“ Er wartete einen kurzen Hoffnungs-Moment. Lächelte. Nickte. Und sagte nickend „Nee, ist noch ausgeliehen. Stehst du auf der Warteliste?“ 

„Natürlich“. 

„Dann wird´s schon irgendwann kommen. Und hey, „Die unendliche Geschichte“…?“ Der Bücherbusmann-Stellvertreter sah mich erwartungsvoll an. Mir schoss mehr Blut in den Kopf, als mein Hirn vertrug. Mir war schwindelig, und ich griff instinktiv nach der Haltestange im Bücherbus. Er hatte die Unendliche Geschichte? 

„Ja… die Unendliche Geschichte will ich.“

Der Bücherbusmann-Stellvertreter nickte onkelig, zeigte seine Lachgrübchen: „Unendliche Geschichte ist auch aus.“ Dann wieherte er lautlos, als hätte er ganz schlechte Verdauung. Und dann empfahl er mir irgendeinen Scheiß, den ich nicht mal meinem kleinen Bruder vorgelesen hätte, wenn es ihn gegeben hätte. Es schien ihm richtig Spaß zu machen, mich zu quälen. Was würde der wohl machen, wenn er mal in Rente gingt? Auf Spielplätzen abhängen, um Glas und Dornen in Sandkästen zu verstreuen?!

Egal, wo war ich? Ach ja, Timm Thaler. Der Swimmingpool – den hatte der Böse, Horst Franck, keine Ahnung wie die Filmrolle hieß – hab das Buch ja NIE gelesen. 

Wahrscheinlich war ich volljährig, als die Bücherbus-Liste endlich zu meinem Namen kam.

Aber das wollte ich gar nicht erzählen. War nur so eine „Weg verbaut“-Assoziation, um an den Horror dahinter zu kommen. Zu unserer Siedlung. Wo jeder Tag voller Abenteuer war. Voller Antworten auf nie gestellte Fragen. Voller Möglichkeiten. Und weitgehend ohne Regeln – außer denen, die die Kinder untereinander festlegten (also in einem Satz: Darwin und das Recht des Stärkeren).

In diesem Quantenraum voller Superpositionen, Möglichkeiten und Ungewissheiten gab es nur wenige Fixpunkte. Einer war, dass spätestens Ende November die Keller–Nische unter der Treppe geräumt wurde, ein halbschattiger, metertiefer Schlauch in Alice´ Kaninchenbau. Oder wahlweise der Schlund der Hölle, das Bermuda–Angst–Dreieck, für alle „Robi, Tobi und das Fli–Wa–Tüt“–Fans: das „Plumpudding Castle“ meiner Kindheit, mein persönliches Kryptonit.

Denn weit weit hinten in dieser bestimmt drei Meter tiefen Schneise in die Dunkelheit warteten die Schlitten auf den Winter. Und der konnte bei uns im Bergischen ab November eigentlich jeden Tag kommen. Dann war kein Ruf lauter als der des Schlittenbergs. Hieß: Wer Schlittenfahren will, muss die Schlitten rausräumen.

Einziges Problem: Davor parkten dicht verschachtelt und oft ineinander verkeilt, in unterschiedlichsten Größen, ungefähr 15 Fahrräder. Vom Vollgummireifen-Kinderrad bis zum Rennrad (mit aufgestelltem Lenker, es waren die 70er). 

Die 15 Räder mussten erstmal auf die unterschiedlichen Kellergänge verteilt werden, um an die dahinterliegenden Schlitten zu kommen. Eine Aufgabe, die Kraft, Willen und Zeit beanspruchte. Und die in solchen Siedlungshierarchien natürlich immer von den Kleinsten erledigt werden mussten. In dem Fall von mir, denn nur Sigi war jünger, aber ein Mädchen und damit von solchen Diensten befreit.

Ich musste mich der Herausforderung also selbst stellen. Warum erzähl ich das eigentlich?

Huch, da hab ich doch glatt ein ganz entscheidendes Gewürz vergessen: Im Keil der Höllenrutsche waren hinter den Fahrrädern die Schlitten, ganz links um die Ecke, in der schmalen Nische. Da wo schon seit dem Bau der Kellerdecke kein Licht mehr hingekommen war. Und in diesem dämonischen Winkel war – natürlich – ein Rattennest. 

Jeder im Haus wußte das. Alle hielten es für das Problem der Nachbarn. Keiner kümmerte sich um die Ratten, und die schienen dankbar. Denn es war keineswegs so, dass sie sich vermehrten wie die Karnickel. Oder besser: Wie die Ratten im Hochhaus gegenüber. Die immer wieder den Eindruck machten, als wollten sie den gesamten Laden übernehmen. Völlig ungehemmt standen die vor dir im Kellergang, aufgerichtet bestimmt (Kinder–)Kniehoch. Völlig angstfrei. Und Schrei–resistent.

Da war unsere Rattenfamilie ganz anders. Sie blieb im Schatten, blieb im Verborgenen. Vermied es, allzu viele Köttel zu hinterlassen. Mied die Giftfallen. Schlüpfte Nächtens durch das Loch neben dem Kellerfenster bei Laglers (oder waren es Wagners?) ins Freie, um auf dem Spielplatz, in den Hecken und Büschen, in all den Vogelnestern Nahrung zu finden, die Familie zu füttern, um den Nachwuchs ein paar Wochen später  – also bei Geschlechtsreife – des Kellers zu verweisen, um als Paar wieder allein zu sein.

Wie kam ich jetzt auf die Ratten? Ach so, der Fahrradkeller Teutonenstraße. Und der Keller am Salierring voller zurückgelassener, nie wieder gesehener Klamotten, liebenswerter Erinnerungen, phantastischer Bücher – das waren nur zwei Highlights meiner Erfahrungen mit Ratten. Eine andere hat mit 1984, dem Liebesministerium und Raum 101 zu tun.  Eine andere mit nackten Füßen in einem Biergarten und der Frage, wie lang so ein pelziges Gefühl braucht, um nicht mehr gefühlt zu werden. Denn wann immer ich an die Ratte dachte, die meinen Fuß so gemütlich und völlig aus der Zeit gefallen erklettert und überquert hatte, war das Gefühl direkt da. Und meine Lippe fing an zu kribbeln. Aber für die Geschichte ist jetzt keine Zeit. Denn ich wollte ja eigentlich was ganz anderes erzählen.

Wollte ich doch, oder?

Ach ja. Die Geschichte, dass „Musa–Chroniken 1 – Die Weiße Bruderschaft“ im Prinzip eine Art Konfrontationstherapie ist. Ich kann nicht wirklich sagen, an welchem Punkt der Therapie ich mich gerade befinde. Nur zwei Fakten. Erstens: Ich habe immer noch keine Ratte freiwillig angefasst. Zweitens: Meine Angst davor ist sehr deutlich geschrumpft. Auf nur noch doppelte Erdgröße ungefähr.

Seit der erste Teil der Musa–Chroniken veröffentlich ist, plane ich den zweiten Teil. Und natürlich werde ich auch da schreibend weiter daran arbeiten, mit Ratten klarzukommen. Außerdem geht´s um windige Politiker und die grün-gemalte „Alternative Energiewirtschaft“. Um Menschen–feindliche Bäume. Eine Wasser–Verschwörung.

Und natürlich um die allergrößte Herausforderung überhaupt: Wie kann man in das coolste Mädchen der Welt verliebt sein, ohne ihr damit auf die Nerven zu gehen?